02/07/2024 0 Kommentare
„BETENDES INSTRUMENT“ - Zur spirituellen Bedeutung der Orgel
„BETENDES INSTRUMENT“ - Zur spirituellen Bedeutung der Orgel
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„BETENDES INSTRUMENT“ - Zur spirituellen Bedeutung der Orgel
„Eine gute Orgel inspiriert“, schreibt Winfried Müller-Brandes. Für den Aufstieg der Orgel zur unangefochtenen „Königin der Instrumente“ in der westlichen Kirchenmusik gibt es eine ganze Reihe von Gründen, so der Kantor der Herrnhuter Brüdergemeine. Zentral dabei auch ihre spirituelle Bedeutung als „betendes Instrument“.
Mit der Einführung der Orgel im Heiligen Römischen Reich im 8. Jahrhundert – als Diplomaten-Geschenk aus Byzanz an den karolingischen Hof – muss sich eine gewisse Faszination ergeben haben. Jedenfalls erschien dieses Instrument offenbar geeignet, das kirchliche Verbot von Instrumentalmusik zu umgehen. Denn es entstand in der Folge, zunächst gewissermaßen im „Schatten“ der Alpen, eine Orgelkultur, die erst nachträglich von Rom legitimiert wurde.
Verschiedene Eigenschaften des Instrumentes Orgel dürften in ihrem Zusammenwirken dazu geführt haben, dass sie zu dem Instrument der westlichen Kirchen geworden ist. Die im Folgenden genannten Gründe hierfür dürften einleuchten, auch wenn nicht durchweg wissenschaftliche Belege vorliegen.
Was wurde an der Orgel als so besonders empfunden, dass dies möglich wurde? Vermutlich war es die Gesamtheit mehrerer Eigenschaften, die sie zu DEM Instrument der westlichen Kirche machte:
- Eine Neuheit: Es handelte sich im Abendland um ein unbekanntes Instrument (die Orgeln der Antike waren in Vergessenheit geraten), das nicht schon von weltlicher Musik verwendet wurde.
- Unerschöpflicher Atem: Durch die mechanische Versorgung mit Luft, dem sog. Spielwind, über eine Balganlage konnte ein unendlich erscheinender Ton erzeugt werden.
- Über-individuell: Orgeln wurden in der Regel auf einer eigenen Empore errichtet, um die Balganlage in einer dahinter liegenden Dach- oder Turmkammer unterzubringen. Damit kommt der Klang von oben, oft mehr über die Reflexionen der Wände und Decke wahrzunehmen als durch den direkten Schall. Und der Spieler ist häufig nicht zu sehen, nur das Instrument, ohne Bewegung. Noch heute sagt man: „Die Orgel spielt.“ Die Musik erscheint über-persönlich, über-individuell.
- Ein betendes Instrument: Als über-individuelle Musik wird sie dem Chorgesang vergleichbar, bei dem die Mischung der einzelnen Stimmen und ihr versetztes (chorisches) Atmen ebenfalls zu einem über-individuellen – und potenziell auch unendlichen – Klang führt. Auch das Erscheinungsbild der Orgel mit den „wie in einem Chor“ stehenden Pfeifen mag dazu beigetragen haben. Wenn die Orgel dem Chor gleichgesetzt wird, kann sie in der gesungenen Liturgie Aufgaben des Chors übernehmen. Also nicht den Chor begleiten, sondern ihn an bestimmten Stellen ersetzen! Und so wurde die Orgel gleichsam zu einem „betenden“ Instrument.
- Bannung der Todesmächte: Für große Orgeln wurde die Aufstellung an der Westseite üblich (also am Turm, weil dort genügend Platz für große Balganlagen verfügbar war). Damit stand sie aber zugleich an der dem Sonnenuntergang zugekehrten Seite der Kirche, symbolisch der Seite der Todesmächte, deren Einfluss man sich beim Betreten der Kirche entziehen möchte. In alten Kirchen befindet sich hier auch der Taufstein, der für den Beginn eines neuen Lebens mit Christus steht, und manchmal eine dem Erzengel Michael zugeordnete Kapelle. An der Bannung des Schädlichen scheint die Orgel also schon allein durch ihren Standort einen symbolischen Anteil zu bekommen.
- Gebaute Harmonie: Die Orgel kann mit ihren Registern ein großes Spektrum an Obertönen prächtig zum Klingen bringen. Das vermochte – bis zur Entwicklung der elektronischen Synthesizer – kein anderes Einzelinstrument. Der Eindruck, beim Spiel der Orgel komme der Himmel zum Klingen, konnte daher nahe liegen. Aber dass auch der Aufbau des Pfeifenwerks von den Maßverhältnissen nach der altgriechischen, für den gesamten Kosmos geltenden Harmonielehre (Pythagoras) bestimmt ist, macht die Orgel zu einem gebauten Gleichnis für das harmonische Zusammenschwingen der irdischen und himmlischen Welt.
Einige dieser teilweise nur empfundenen oder durch Interpretation entstandenen Merkmale haben heute ihre Bedeutung verloren. Auch in Gottesdiensten wird die Orgel fast nur noch zur Begleitung und konzertierenden Rahmung gespielt, kaum als „betendes Instrument“. Gleichwohl sind die Merkmale des unendlichen Atems, der Über-Individualität und der edlen, prächtigen (sowie sehr variablen) Klangentfaltung auch heute wichtige Argumente für die Verwendung der Orgel im spirituellen Vollzug.
Im allgemeinen Bewusstsein steht die Orgel heute als Symbol für eine gewissermaßen „unschuldige“ Sakralität – kein Folterinstrument, ohne Dogmen oder politische Beimischung. Dabei wird gelegentlich übersehen, dass manche barocken Instrumente aus Gewinnen des Sklavenhandels mitfinanziert worden sein dürften, dass die Wahl des kaiserlichen Hoflieferanten für die eigene Orgel in der Gründerzeit auch als zeitgenössisches politisches Bekenntnis gelesen werden kann. Und die Firma, die in den 1930er Jahren die Orgeln für das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg lieferte, ist in der Nachkriegszeit mit zahlreichen Instrumenten in Berlin vertreten.
Aber noch eine besondere Eigenschaft sollte ebenfalls beachtet werden: Eine gute Orgel inspiriert diejenigen, die sie spielen, zu besonders guter Musik!
Winfried Müller-Brandes
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