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"Die Leitidee dieses Versuchs heißt Menschenwürde": Gedanken zu „70 Jahre Erklärung der Menschenrechte"
"Die Leitidee dieses Versuchs heißt Menschenwürde": Gedanken zu „70 Jahre Erklärung der Menschenrechte"
# Christian Nottmeiers Gedanken
"Die Leitidee dieses Versuchs heißt Menschenwürde": Gedanken zu „70 Jahre Erklärung der Menschenrechte"
Grußwort „70 Jahre Erklärung der Menschenrechte“ von Dr. Christian Nottmeier beim Neuköllner Abend der Begegnung
Interkulturelles Zentrum Genezareth, 10. Dezember 2018
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Brüder und Schwestern im interreligiösen Gespräch,
wir leben in einem Zeitalter der Globalisierung, der Individualisierung und der Pluralisierung. Wie man lebt, an welchen Werten man sich orientiert, ist in vielfacher Hinsicht eine Frage der individuellen Entscheidung geworden. Kulturelle, auch religiöse Vielfalt gehört zu den Kennzeichen der Moderne, in der wir leben und die im Zeichen von technischem Fortschritt und Digitalisierung letztlich den ganzen Globus umfasst. Wenn es freilich bei aller grundsätzlichen Akzeptanz dieser Vielfalt noch so etwas wie ein Leitziel gesellschaftlichen Zusammenlebens geben soll, das sich an Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit orientiert; braucht es dazu den Konsens über elementare Gemeinsamkeiten und zumindest den Versuch, diese auch rechtlich für verbindlich zu erklären. Die Leitidee dieses Versuchs heißt Menschenwürde, ihre rechtliche Absicherung umschreiben wir mit dem Begriff der Menschenrechte.
Heute vor 70 Jahren beschlossen die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Der Kompromiss, der zu ihrer Verabschiedung führte, sah vor, dass es sich dabei um nicht mehr als eine Absichtserklärung handeln sollte, die keine rechtliche Verbindlichkeit haben sollte. Drei Jahre nach dem Ende von Nationalsozialismus und Faschismus nutzten die Vereinten Nationen den – so darf man es als Theologie ausdrücken – kairos einer weitgehenden Einigkeit – auch wenn die sowjetisch dominierten Länder sich bei der Schlussabstimmung enthielten. Wer auf die Entstehungsgeschichte der Erklärung schaut, wird übrigens feststellen, dass die 18 Mitglieder der Kommission, die den Textentwurf erarbeiteten, ein breites Spektrum an Nationen und Kulturen vertraten, so dass es schwer fällt, die Menschenrechtserklärung als rein westliche Erfindung abzutun. Es ging um Einigung in der Sache, um ein praktisches Anliegen von größter Wichtigkeit, das für unterschiedliche Begründung offen sein sollte. Insofern verzichtete man etwa auf einen Gottesbezug oder eine naturrechtliche Begründung. Als muslimischer Staat enthielt sich übrigens nur Saudi-Arabien, für alle anderen muslimischen Länder war etwa die Frage der Gleichberechtigung der Frau oder das Bekenntnis zur Religionsfreiheit kein Hinderungsgrund für eine Zustimmung. Die Menschenrechte entfalteten rasch etwas, was sich auch an den Menschenrechtserklärungen der amerikanischen wie der französischen Revolutionen zeigen ließe: sie gewannen eine eigene Dynamik, wurden zu einem normativen Projekt, das wichtige, emanzipative Wirkung entfaltete und eine Eigendynamik bekam, die sich kaum mehr einfingen ließ. Ich nehme einmal ein unbekannteres Beispiel: Als Vertreter der südafrikanischen Regierung gehörte Ministerpräsident Jan Smuts zu den Autoren und Verfechtern der Erklärung, obwohl er in seinem eigenen Land die politische Gleichberechtigung der schwarzen Bevölkerungsmehrheit ablehnte. Mit dieser Position, die seiner Wählerschaft aber bereits zu weit ging, verlor er noch 1948 die Wahlen in seinem Land – es folgte unter seinen Nachfolgern die Verschärfung der Rassentrennung unter dem Stichwort Apartheid. Nelson Mandela hingegen bezog sich in seinem Kampf gegen dieses Regime dagegen ausdrücklich auf die Menschenrechtserklärung und hat sich mit guten Gründen zeitlebens dagegen gewehrt, sie als rein westliches Interessenkonstrukt abzutun oder im Sinne von Gruppenrechte umzudeuten.
Man kann lange darüber streiten, ob die Ideengeschichte der Menschenrechte sich v.a. den Idealen der Aufklärung und der atlantischen Revolutionen oder der christlich-jüdischen Tradition verdankt. Hinter diesem Streit verbirgt sich auch die Frage, welche Position der Religion mit Blick auf die Menschenrechte wie die Menschenwürde zukommt. Als theologischen Figuren für eine religiöse Geschichte dieser Ideen lassen sich sicher die Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit und der Gotteskindschaft aller Menschen anführen. Die religiöse wie die aufklärerisch-revolutionäre Begründung müssen keine Widersprüche sein. Freilich haben alle großen Religionen die Idee der Menschenwürde immer wieder auch mit Füßen getreten. Aus der Sicht eines evangelischen Christen, eines aufgeklärten Protestanten erwächst schon aus dem Umgang mit der eigenen Geschichte die Verpflichtung, sich für Menschenwürde und Menschenrecht zu engagieren. Das setzt bei uns allen freilich die Bereitschaft voraus, sich auch kritisch der eigenen Geschichte und der eigenen religiösen Tradition zu stellen. Das ist meistens ein schmerzhafter, aber ebenso lohnender wie produktiver Prozess.
Menschenwürde und Menschenrechte müssen deshalb gegen jede Form von Extremismus, sei es von rechts („Rasse“), links („Klasse“) oder religiös-fundamentalistischer Couleur verteidigt werden. Sie müssen aber v.a. und zivilgesellschaftlich gestützt, argumentativ verteidigt und in den Praktiken des Alltagslebens gelebt werden. Im Alltagsleben meint das die Sensibilisierung für Erfahrungen des Unrechts und der Gewalt, im Bereich der Werte um eine, gewiss unterschiedlich, aber doch nötige argumentative Begründung ihres unbedingten Geltungsanspruch, im Bereich der Institution um ihre konsequente Kodifizierung und Verrechtlichung, damit sich Menschen aus verschiedenen Kulturen auf dieselben Rechte berufen können. Unser Bürgermeister Martin Hikel hat eben in seinem Grußwort verdeutlicht, was das auch mit Blick auf Integration und Bildung hier in Neukölln bedeutet. Das zu befördern, zu ermöglichen, voranzubringen, aber auch zu verteidigen, ist unsere gemeinsame Aufgabe.
Das ist schon deshalb nötig, weil, wie es in der Präambel heißt, „die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Dr. Christian Nottmeier, Superintendent des Ev. Kirchenkreises Neukölln
Bild: Vereinte Nationen
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