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"Erinnern und Gedenken" - Predigt zum Volkstrauertag 2018
"Erinnern und Gedenken" - Predigt zum Volkstrauertag 2018
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"Erinnern und Gedenken" - Predigt zum Volkstrauertag 2018
Predigt am 18. November 2018 (Volkstrauertag) bei der Gedenkfeier für die NS-Zwangsarbeiter Berliner Kirchengemeinden
Superintendent Dr. Christian Nottmeier
Text zur Predigt: „Dem Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe: Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden: Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut“ (Offb 2, 8. 9b).
„Eines Tages kam eine alte Frau auf den Friedhof, blieb stehen, schaute sich um, schaute, was ich mache. Dann ging sie etwas weg, kehrte wieder um, legte auf den äußeren Rand der Bank ein Stück Brot und dann, als sie weg war, nahm ich das Stück Brot und aß es auf. Dann kehrte sie um, schaute und sah: das Brot war nicht mehr da. Sie sagte nichts - was willst du, wir haben einander verstanden.“ So hat Nikolai Galuschkow, einer der Zwangsarbeiter hier aus Neukölln, es aufgeschrieben.
Zwei Menschen, die sich einander verstehen, ohne Worte. Eine alte Frau auf einem der Friedhöfe, an dem die Zwangsarbeiter arbeiten müssen. Die Frau lässt sich unterbrechen, sieht hin, was da vor ihren Augen geschieht. Sie sieht Nikolai Galuschkow. Wir hören in dem kurzen Zeugnis nicht, was sie sieht, was in ihr vorgeht. Aber sie sieht. Vielleicht einfach die Schwere seiner Arbeit, gewiss das „OST“-Zeichen, das ihn zum Außenseiter, zum Gefangenen, zum Fremdling machen soll, ja zum Feind, zum Untermenschen.
Sie sieht diesen jungen Mann, schaut einfach hin. Stellt sich vielleicht sein Schicksal vor, sieht seine Wut und Verzweiflung, seine Sehnsucht und Hoffnung. Sieht, dass er Heimweh haben muss. Und Hunger, das auch. Denn abgemagert sieht er aus, die Verpflegung in der Baracke wird kärglich sein. Sie sieht – und handelt. Reden ist nicht nötig. Brot hat sie dabei, so viel gibt es nicht mehr wegen der Lebensmittelrationierungen. Sie legt es auf die Bank und geht ein Stück weiter. Als sie weg ist, nimmt Nikolai das Brot und isst es auf. Ein wenig Kraft für den Tag, eine kurze Unterbrechung. Die Frau kehrt zurück, sie sieht: das Brot ist nicht mehr da. Sagen muss sie nichts, es reicht zu sehen, um einander zu verstehen – einander sehen, einander wahrnehmen, den anderen nicht in den Kategorien, den teuflischen Zuschreibungen, in denen das NS-Regime Menschen festlegt, einordnen – das geschieht in dieser kurzen Szene. Einander wahrnehmen, das Leid des Anderen sehen, solidarisch sein ohne große Worte und vielleicht nur für diesen Augenblick. Nicht mehr, aber auch nicht weniger beschreibt Nikolai Galuschkow in dieser kurzen Szene.
Heute, an diesem Tag, gedenken wir des Schicksals der Zwangsarbeiter in Berliner Kirchengemeinden. Lange, viel zu lange, ist das nicht wahrgenommen worden, was auch hier passiert ist. Menschen, die aus ihrer Heimat geraubt, entführt werden, um in der Fremde unter unmenschlichen Bedingungen zu arbeiten. Erst vor etwa 15-20 Jahren ist das auch öffentlich besprochen worden, 2010 dann der Pavillon mit der Ausstellung eröffnet worden.
An der Geschichte der Zwangsarbeit im kirchlichen Dienst gibt es nichts zu beschönigen und zu relativieren. Sie war ein Rädchen im verbrecherischen Getriebe des NS-Systems – und es funktionierte wie so viele dieser Rädchen. Auch deshalb, weil nicht das sehen, das Hinsehen den kirchlich Verantwortlichen in den Gemeinden am Herzen lag, sondern die „kriegswirtschaftliche Notwendigkeit“. „Alle diese Menschen müssen so ernährt, so untergebracht, so behandelt werden, dass sie bei denkbar sparsamsten Einsatz die größtmögliche Leistung hervorbringen“, heißt es in einer Aufzeichnung aus der Jerusalems- und Neuen Kirchengemeinde 1942.
Dass die Kirchen bei allem möglichen Verständnis für die Bedingungen des Krieges hier fundamental die eigenen Grundlagen, die Botschaft von Nächsten- und auch Feindesliebe außer Acht ließen, ja fundamental gegen sie verstießen, kam nicht zu Bewusstsein. „Wenn ein Fremder bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken“, so lesen wir es im Buch Leviticus (19, 33-34): „Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst. Denn ihr seid auch Fremde gewesen im Land Ägypten.“
Flucht und Krieg, Vertreibung und Sehnsucht. Wieder in die Heimat kommen, die Lieben wiedersehen, die Häuser wieder aufbauen und neu beginnen. In der Bibel, gerade im Alten Testament, spielt das eine wichtige Rolle. Ja, so muss man die Bibel wohl auch lesen, als Buch der Flucht, der Vertreibung, der Heimatlosigkeit und der Sehnsucht. Für die Juden war und ist die hebräische Bibel so über Jahrhunderte ein Hoffnungsbuch, weil hier in der Gestalt von Liedern, Gedichten, Klagen und Erzählungen immer neu die eigene Heimatlosigkeit, die immer neue Flucht bearbeitet werden konnten und können. Die Bibel, auch das Neue Testament ist ein Buch der Flucht, der Sehnsucht, der Heimatlosigkeit. „Denn ihr seid auch Flüchtlinge gewesen, heimatlos im Land Ägypten“ – so lautet die Begründung. Es lohnt, unsere Bibel auch so immer neu zu lesen.
Der Ort, an dem wir heute stehen, zeigt aber auch, dass die Verantwortlichen damals, vor mehr als 70 Jahren, wohl vergessen hatten, ja vergessen wollten, was der Glaube bedeutet, auf den sie sich beriefen. „Bei sparsamsten Einsatz größtmögliche Leistung“ – schreibt ein Verantwortlicher aus der Jerusalemsgemeinde! Dabei müsste doch schon der Name dieser Gemeinde – Jerusalem – Bilder, Assoziationen, Schicksale hervorrufen, die einen innehalten lassen müssten: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden…“ (Psalm 126)
Die Not sehen, wahrnehmen. Auch am Ende der Bibel spielt das eine Rolle. Den Gemeinden in Kleinasien werden im Namen des Auferstandenen Briefe des Trostes geschrieben: „Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut“, heißt es da etwa. Ich sehe, was in dir vorgeht. Der Glaube hier soll Hoffnung geben, Hoffnung, dass das Leid nicht umsonst, dass kein Leben wirklich verloren, sondern bei Gott aufgehoben und bewahrt ist.
Dazu braucht es freilich auch die Erinnerung, das Gedenken, so wie wir es heute hier versuchen. Kein Schönreden soll das sein, kein irgendwie zu absolvierendes Ritual. Erinnerung, Gedenken braucht Zeit. Es geht zunächst gar nicht im Reden, sondern um Hinsehen, um Wahrnehmen. Hier, an diesem Ort, ist das geschehen. Es beeindruckt mich, wie dieses Erinnern schließlich auch zum Erzählen und zum Begegnen geführt – auch zwischen den Generationen. Die Schülerinnen und Schüler der Evangelischen Schule Neukölln, die auch heute wieder an dieser Gedenkfeier mitgewirkt haben, belegen das seit etlichen Jahren. Auch Begegnungen mit ehemaligen Zwangsarbeitern hat es gegeben. Menschen, die hier eingesperrt und deren Menschlichkeit, deren Würde hier verletzt und missachtet wurde, konnten schließlich, nach Jahren des Schweigens und Verdrängens, erzählen. Ich will nicht von Heilung reden, nicht von Versöhnung, vielleicht sind das manchmal zu große Worte. Aber Schritte in diese Richtung, die sind hier gegangen worden. Die Namen der Opfer sind erinnert, sind aufgeschrieben und dokumentiert worden. Erinnern, gedenken, das gehört zum Auftrag unseres Glaubens dazu. Weil jeder und jede vor Gott unendlich wertvoll ist, unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht oder Hautfarbe. Und so erinnern wir, versuchen hinzusehen, auch heute, in den Herausforderungen unserer Zeit, in denen Menschen wieder sagen, man müsse all das endlich hinter sich lassen, lange sei das her und doch nur eine Episode unserer Geschichte.
Dem kann nur unser Nein gelten. Auch was hier geschah, soll erinnert und gedacht werden. Soll gesehen und erzählt werden. Es mahnt uns, diese Geschichte nicht zu vergessen, nicht gleichgültig zu sein. Und immer neu den Wert jedes Menschen, von Gott gewollt und geschaffen, zu sehen. Denn nur wer hinsieht, wer wahrnimmt, der kann auch aufstehen, der kann widersprechen, und sei es in kleinen Zeichen, wenn menschliche Würde verletzt und missbraucht wird. Als Christ sage ich: weil Gott an der Seite der Leidenden, der Missbrauchten, der Opfer und Gewalt und Unterdrückung steht. Dafür steht das Kreuz Jesu, dafür steht der Namen dessen, „der tot war und ist lebendig geworden“ (Offb 2, 8b).
„Eines Tages kam eine alte Frau auf den Friedhof, blieb stehen, schaute sich um, schaute, was ich mache. Dann ging sie etwas weg, kehrte wieder um, legte auf den äußeren Rand der Bank ein Stück Brot und dann, als sie weg war, nahm ich das Stück Brot und aß es auf. Dann kehrte sie um, schaute und sah: das Brot war nicht mehr da. Sie sagte nichts - was willst du, wir haben einander verstanden.“
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